Ein Auslandstudienjahr in Birmingham
Crest
Dieser Bericht soll meine Erfahrungen im Studienjahr ´98/`99 zusammenfassen, welches ich als ERASMUS-Student an der University of Birmingham verbracht habe und hoffe damit einen kleinen Ausblick für all diejenigen zu bieten, die planen eventuell selbst einmal für ein Jahr nach Birmingham zu gehen.


 
Als ich nach Birmingham fuhr, hatte ich bereits 6 Semester Mathematik an der TUD studiert. Doch ich kann nur jedem anderen raten, sofort nach dem Vordiplom ein Auslandstudienjahr zu beginnen: Es hilft einem ungemein über das ja allgemein bekannte Motivationsloch nach dem Vordiplom hinweg. Studieren in Birmingham ist toll. Also zumindest als ERASMUS-Student, ansonsten wäre bei dieser Aussage eher Vorsicht angebracht, denn:
England ist anders...
Ich hätte vor meiner Brimingham-Erfahrung nie gedacht, daß es solche Unterschiede zwischen Europäischen Ländern wie Großbritannien und Deutschland gibt. Egal ob an der Uni oder im sozialen Bereich, die Unterschiede waren größer als ich es erwartet hätte. Ein vereintes Europa ist also zumindest mit England nicht in Kürze zu erhoffen. Apropos Europa: Als Deutscher sollte man schon auf die Aussage gefaßt sein "Deutschland versuche einmal mehr, Großbritannien zu unterwerfen (diesmal mit der ‚Waffe‘ EU)!", denn dazu wird man also Deutscher schon mal öfters (augenzwinkernd) zur Stellungnahme gebeten, gerade auch von seinen englischen Mitstudenten.


Studieren in England ist anders...
Das Studium in England ist im allgemeinen sehr verschult. Es wird drei Jahre getrennt nach Jahrgang studiert, danach hat man entweder den Abschluß Bachelor oder nicht (Sitzenbleiben kann man nicht). Eventuell macht man noch ein zusätzliches Jahr zum "Master of Science" -Titel. Darüber hinaus kocht jede Universität ihr eigenes Süppchen, aber das ist ja bei uns nicht prinzipiell anders. Ich beziehe mich im folgenden daher Ausschließlich auf die University of Birmingham.
Das Gute vorneweg: vor 09.00h geschieht auf dem Campus nichts. Der Rest hört sich jetzt etwas schlechter an, doch als ERASMUS-Student hat man es etwas besser. Zu Beginn eines Jahres muß der Birminghamer Student seine Kurse für das anstehende Jahr wählen. Es müssen 120 ‚Credits‘ beliebig auf zwei Semester verteilt werden. Dabei darf jedoch nur aus Veranstaltungen für den eigenen Jahrgang gewählt werden; außerdem sind einige Veranstaltungen ohnehin zwingend vorgeschrieben und es gibt noch weitere Abhängigkeiten zwischen den Veranstaltungen zu berücksichtigen (z.B.: wähle eine von dreien, etc.). Eine Vorlesung hat einen Umfang von 10 Credits und ist meist vom Typ 2x1 Stunde pro Woche; manchmal wird dazu noch alle zwei Wochen ein Tutorium angeboten, das jedoch ebenfalls im Vorlesungsstil und von dem Veranstalter selbst gehalten wird (Gruppenübungen sind unbekannt). Neben Vorlesungen kann es, je nach Studienrichtung, noch Praktika geben und für Studenten im Abschlußjahr besteht die Möglichkeit ein Projekt für 20 Credits zu machen. Dieses Projekt wird wohl oft mit einer Diplomarbeit verglichen, ein Drittjahresprojekt ist jedoch vom Umfang nur mit einer einfachen Seminararbeit vergleichbar, wird mit einem maximal 15 Minuten dauernden Vortrag abgeschlossen (alle Projektvorträge eines Jahrgangs werden an drei Tagen abgehandelt). Für den Bachelor ist die Teilnahme an einem Projekt auch nicht zwingend vorgeschrieben. Weitere seminarähnliche Veranstaltungen sind weitgehend unbekannt und eher von experimenteller Natur. Jede Veranstaltung wird kurz nach dem Semester mit einer zweistündigen Klausur abgeprüft. Das Klausur schreiben ist sehr ritualisiert, Hilfsmittel sind nicht zugelassen und verlangt wird größtenteils die auswendige Reproduktion von in der Vorlesung vorgestellten Aufgaben/Theoremen. Der Umfang der Klausur und die knappe Zeit lassen keine Zeit zum denken. Die Klausur macht ca. 80% der Note aus. Die restlichen 20% ergeben sich aus den stets benoteten Hausaufgaben. Nach drei Jahren werden alle Noten des zweiten und dritten Jahres aufaddiert und der Durchschnitt gebildet. Das ergibt dann die Note des Bachelors. Dann ist man in der Regel 21 Jahre alt, da man das Studium (im Schnitt) mit 18 beginnt (auch die Männer, da es keine allgemeine Wehrpflicht gibt).
Noch ein Word zum ‚Birmingham-Semester‘: Da das Sommersemester durch die Osterferien in zwei (ungleiche) Teile gespalten wird, die oft mit ‚Spring -‘ bzw. ‚Summer Term‘ unterschieden werden, kommt manchmal unnötig Verwirrung auf, insbesondere da Trimestersysteme an englischen Unis mal üblichen waren oder noch sind. Doch wenn man die Osterferien mal ignoriert, gibt es im Studienjahr an der University of Birmingham nur zwei identisch organisierte Semester.


Englische Unis sind anders...
Die Universität ist dank Studiengebühren (die für den ersten Studiengang vom Staatssystem übernommen werden) deutlich besser ausgestattet wie die TUD. Die Vorlesungssäle sind modern und multimedial eingerichtet (insbesondere brauchbar multimedial: Im Gegensatz zur TUD gehört zu jedem Videoprojektor ein fest installierter PC und eine Workstation, die bereits auf den Projektor abgestimmt und fest ans Internet angeschlossen sind!), die zentrale, gut ausgestattete Bibliothek ist auch am ganzen Sonntag über offen, das Sportzentrum braucht den Vergleich mit kommerziellen Sportanlagen nicht zu scheuen und die zu Verfügung stehenden Rechner übersteigen die Kapazitäten unserer Informatiker deutlich. Der weitläufig abgegrenzte Campus und die Gebäude werden rund um die Uhr von Sicherheitsfachleuten patrouilliert und eine Horde von fest angestellten Gärtnern sorgt dafür, daß es das ganze Jahr über gewaltig blüht und das der englische Rasen, säuberlich abgesaugt natürlich, zum dösen, sonnen und studieren einlädt. Gespart wird allerdings an dem Personal: Professoren gibt es nur sehr wenige, die meisten Veranstalter sind Doktoren. Studentische Hilfskräfte müssen auch nicht bezahlt werden, da es einfach keine gibt: Alle Veranstaltungen müssen komplett (incl. Klausurkorrektur) vom Veranstalter selbst betreut werden, das Konzept der Gruppenübung ist gänzlich unbekannt. Gespart wurde auch an der studentischen Selbstverwaltung: Es gibt eine Studentengilde, deren Kern 6 gewählte (und bezahlte) Studenten bilden. Diese 6 haben ein eingeschränktes Stimmrecht in gewissen Gremien, ihre Hauptaufgabe ist jedoch die Verwaltung der Gilde selbst: Diese unterhält auf dem Campus mehrere Bars und Discotheken (die dank Clubstatus - "Students only" - das englische Sperrstundengesetz umgehen können und länger als 23.00Uhr geöffnet haben), ein paar Fast Food Restaurants (soviel zur studentischen Selbstverwaltung: nur Fast Food und Wegwerf-Plastik-Geschirr in den von der Gilde geführten Einrichtungen), die Räumlichkeiten der studentischen Interessengruppen (Sportgruppen, Religiöse Gruppen, Schwulen & Lesben Gruppen, Militärgruppen, eine Karnevalsgruppe, einen bayrischen Stammtisch, ein paar Wandervögel,... es gibt einfach alles und die Gruppen sind meistens gut organisiert: So kann man z.B. bei den Wanderern Karte & Kompaß, Wanderkleidung und Ausrüstung für alle Gebiete der britischen Inseln leihen oder/und an deren vollen Fahrten- & Feierprogramm teilnehmen) und ein hervorragendes studentisches Beratungszentrum ("The Arc" – hier erhält man Hilfe bei Rechtsproblemen, der Wohnungssuche und finanziellen, sozialen, psychischen oder sonstigen Problemen aller Art). Der Arc bietet auch regelmäßig Wochenendseminare (effizient Lernen, effizient Bewerben,...) an.
Also als Student muß man das Gelände der Uni nicht verlassen: Auf dem Campus gibt es Supermärkte, Bankfilialen, Büchereien, Fast Food, Reisebüros, Friseure, CD-Läden, Kneipen und Discos. Alles speziell auf Studenten zugeschnitten und in Gebäuden der Universität untergebracht. Die Studentenwohnheime stehen ebenfalls direkt auf Uni eigenem Gelände nebenan (Der Universität gehört der ganze Grund des Viertels von alters her, inklusive Wege und Straßen...). Wenn man also das Unigelände zu ‚erstenmal‘ verläßt, hat man dann auch gleich einen speziellen Firmensitz zum Ziel: Mehrmals im Jahr finden Veranstaltungen wie die Konaktiva statt (allerdings nicht immer so groß) und keiner macht seinen Abschluß ohne bereits einen (bedingten) Arbeitsvertrag zu haben.
In den Fachbereichen selbst gibt es lediglich für jeden Jahrgang drei gewählte Studenten die eine Art Klassensprecher - Funktion haben. Stimmrechte haben diese Vertreter nirgends. Auch gibt es weder Fachschaften noch Fachschaftsräume: Lediglich die Professoren, Doktoren und Doktoranden haben Gemeinschaftsräume in den Gebäuden der Fachbereiche. Für Studenten heißt es hier Eintritt verboten - "Staff only!", wie übrigens auch für die Mensa, viele Fahrstühle oder manche Toiletten. Studenten und ‚Lehrer‘ (Profs, Doktoren, Doktoranden) mischen sich nicht!



ERASMUS-Studenten sind anders...
..., besonders wenn man keinen Fast-Food mag, hat man es als Austauschstudent schwer, das Schild "Staff only!" am Mensaeingang zu übersetzten (Das Mensaessen ist gut, deutlich billiger wie der Fast Food Kram für die Studenten und es gibt wiederverwertbares Porzellan. Obendrein fällt man wenigstens mal vom Alter her nicht auf – ab 21 geht man ja als Doktorand durch...). Auch hat man es als ERASMUS-Student bei der Wahl seiner Kurse einfacher: Ich wählte meine Veranstaltungen erst kurz vor Beginn des jeweiligen Semesters und mußte lediglich die Zeittafeln berücksichtigen. Ich konnte problemlos all die spannenden Vorlesungen meiner Studienfächer hören, die in Darmstadt nicht angeboten werden, was für zwei Semester optimal reichte. So hörte ich in einem Semester zweit- und drittjahres Kurse der Informatik sowie dritt- und viertjahres Kurse der Mathematik gleichzeitig. Doch dieses Mischen hat auch einen erheblichen Nachteil: Da die englischen Studenten ja streng nach Fach und Jahrgang getrennt sind, ist es so schwerer mit englischen Studenten in Kontakt zu kommen. In den Jahrgangsstufen haben sich feste Personenkreise gebildet und durch die fehlenden Gruppenübungen und das nicht Vorhandensein offener studentischer Arbeitsräume bleibt einem nur die kurzen Vorlesungen zum kennenlernen seiner Mitstudenten. Studentische Parties scheiden zudem am Anfang wegen der Sprachbarriere aus: Während die Verständigung an der Uni auf Anhieb vollkommen problemlos klappt, dauert es doch ein klein wenig bis man auch alkoholisierte, mit lauter Musik untermalte Unterhaltungen in englischer Umgangssprache vollführen kann (In England dreht man die Musik lauter auf: Kneipen spielen Musik in Discolautstärke und diese drehen wiederum noch mal mehr auf). Doch im verlaufe des ersten Semesters ließen sich beide Probleme lösen und bis dahin gibt es noch genügend andere Austauschstudenten denen es genauso geht...
 
 

Wenn man dann aber mal länger mit ein paar Eingeborenen Kontakt hatte, ein paar Feten gefeiert und ein paar Hausübungen gemeinsam bestritten hat, merkt man schließlich doch:

Engländer sind anders...
Natürlich sind die Engländer, die man nun zu seinen Freunden zählt, normal, aber die "Anderen" im allgemeinen nicht. Hier nun die wichtigsten generellen Vorurteile:
Groß-Britannien ist also anders...
...übrigens auch landschaftlich. Während die Midlands nicht ganz so spektakulär sind, ist Schottland oder Wales auf jeden Fall eine Reise wert. Eben noch am Strand und schon ist man auf einen Paß der auch irgendwo in den Alpen sein könnte (Wales). Wer sich fürs prähistorische Interessiert, sollte auf jeden Fall mal einen Abstecher zu den Orkney Inseln machen und Skara Brae besuchen, was sich gut mit einer Schottland Rundreise verbinden läßt. Zu Wander-wochenend-ausflügen laden auch die Naturschutzgebiete wie Dartmoor, Snowdonia oder der Peak District ein, mittelalterliche Burgen samt Ritterturnieren gibt es auch überall und das Nightlifezentrum London ist auch nicht sehr fern. Wer es warm und sonnig mag sollte nach Cornwall fahren. Im Sommer zwar etwas überlaufen, eignet sich Cornwall hervorragend zum Küstenwandern, zum Schlendern durch exotische Gärten oder einfach nur zum dösen am Strandbad. Dank dem Golfstrom wachsen dort in jedem Vorgarten Palmen und ähnliche Gewächse und manches Hafenstädtchen hat ein Hauch italienischen Flairs.
 

Nichtsdestotrotz hat mir mein Aufenthalt in England sehr gut gefallen und ich kann nur jeden Studenten raten, einmal für ein Jahr ins Ausland zu gehen. Es gibt doch überraschenderweise so viele Unterschiede, die man als Tourist nicht bemerkt. Eins habe ich auch aus dem Umgang mit anderen Austauschstudenten gelernt:

Deutsche sind anders...
Den anscheinend ist das deutsche Studiensystem eher die Ausnahme. Von dem was man so hört scheint es in anderen Ländern sehr, sehr ähnlich zu England zu sein. Schade. Denn es ist doch gerade das Eigenverantwortliche lernen und die Zusammenarbeit in Gruppen die das Studium so interessant machen. Auch habe ich nun gelernt den Wert der studentischen Mitbestimmung zu schätzen, die wie hier genießen können und immer mehr mißachten! In England wäre es undenkbar Studenten in Gremien oder Berufungskomissionen einzusetzen. Studenten sind an der Uni in England eben nur eine niedere Klasse, die eben keine Fahrstühle benutzen darf! Nun, vielleicht ist auch deshalb unter den englischen Studenten diese Schulmentalität weiter verbreitet als unter deutschen Studenten: nur das Nötigste mit dem geringsten Aufwand erledigen. Schließlich will man schnell Geld verdienen und so ist es eben zweckmäßiger Hausaufgaben abzuschreiben, anstatt auftauchenden Fragen mal forschend nachzugehen.
 
 

Und was kommt unterm Strich heraus? Ein Jahr fauler Urlaub?
Nein, sicherlich nicht. Natürlich gibt es in England auch einfache und langweilige Vorlesungen, aber besonders die Viertjahresvorlesungen waren sehr interessant und fordernd. Dementsprechend habe ich auch kein Jahr verloren, schließlich kann ich mir den auf englisch gelernten Stoff genauso in meinen Diplomprüfungen prüfen lassen wie deutsche Vorlesungen. Das ich halt diese Klausuren mal pseudo-unverbindlich mitgeschrieben habe schadete da nicht. Wer will kann sich natürlich auch Noten umrechnen lassen, was ich zum Beispiel für meine Nebenfachprüfung plane, aber die Regelungen sind da ja von Fachbereich zu Fachbereich unterschiedlich...

Klar, ich habe viele Dinge besichtigt und einem Kurzurlaub nach dem anderen gehabt, und dennoch ich habe das Gefühl, daß ein arbeitsreiches Jahr hinter mir liegt, in dem ich einiges gelernt habe. Mein Englandaufenthalt hat mir wieder neuen Mut und neue Motivation zum Studium gegeben...

 
Steffen Jost
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